Aus dem 2. Bilderbogen:

Wie der Zappelphillipp in die Röhre guckte ...

(Phillipp wird von dem Schäfersehepaar adoptiert und in die Dorfgemeinschaft der Schäfer aufgenommen. Seine Adoptiveltern erweisen sich als ausgestiegene Akademiker. Ihr Freund Klaus, der immer noch an der Universität politisch aktiv ist, schenkt ihnen ein Fernsehgerät, das erste im Dorf. Also sieht sich die Dorfgemeinschaft gemeinsam die erste Mondlandung im Fernsehen an. Phillipps Zappelei beginnt)

Montag ist Mondtag. Als die Dorfgemeinschaft, als all die mondsüchtigen Schäferinnen und Schäfer, die fernwehgeplagten Herrschaften aus Handel und Gewerbe, aus dem Sternzeichen EDEKA, dem Tierkreiszeichen Schrot und Korn, der skeptische Bäcker, der himmelsgläubige Bürgermeister, die Nachbarin Liese mit ihrem Neugeborenen, meiner guten Freundin und schlechten Beraterin in späteren Tagen, deren erstes Hemd ich trug und die mein Venusstern werden sollte, der auch nur ein karger versteinerter Planet ist, ins Häuschen meiner Pflegeeltern pilgerten, als sie die gute Stube vollmachten, da waren die letzten Brennkammern längst abgebrannt und abgestoßen, verloren sich als intergalaktischer, von Menschenhand geschaffener Müll in den endlosen Einbahnstraßen des Firmaments, und wirbelte Apollo 11 mit drei Männern Besatzung dem guten leuchtenden Freund von uns Schlaflosen, dem Nächsten der damals unendlichen Fernen, dem Mond zu. Und während Meßgeräte tariert, Kreisbahnen berechnet und Computerdaten verglichen wurden, während der Kommandant der erdfernen Expedition sich über hundertundzwei Stunden Zeit nahm, über seine Worte bei den ersten Schritten auf den kargen Weiden des Trabanten zu grübeln, machten sich Klaus und der Herr Papá unter wortreicher Mithilfe der Schäfergemeinschaft daran, das Fernsehgerät der Marke Telefunken in Betrieb zu nehmen. Damals mußten noch langstielige Antennen wie die Fühler eines Käfers ausgefahren und zurechtgerückt werden, mußte an schwergängigen Rädern nach dem einzigen Programm, das zwischen Myrtesträuchern in Eifeltälern zu empfangen war, gesucht werden. Das erste Bild, das die Eifelbewohner von ihrem abgelegenen Gebirge inmitten der kräftigen hellen Schatten der Ozeane auf der Mattscheibe in der Schäferhütte meiner Pflegeeltern empfingen, war schwarzweiß und rieselig, beinahe unkenntlich, nichts als eine kreisrunde unscharfe Scheibe auf schwarzem Grund, und in die allgemeine Atemlosigkeit über dieses, seien wir ehrlich: lausige Abbild ihres Heimatplaneten, hörte man nur den Herrn Bürgermeister, der erschüttert flüsterte: „… und sie ist doch eine Scheibe!“

Die jungen Burschen aus dem Dorf rennen aufgeregt aus der Hütte auf die dunkle mondbeschienene Mohnwiese, gestikulieren wie wild und rufen durch die offenen Fenster: „Seht ihr uns? Seht ihr uns?“

Doch der Empfang ist trotz nachhaltiger technischer Bemühungen von Klaus nach wie vor so schlecht, daß genauere Details auf der Erdoberfläche im Fernsehen nicht auszumachen sind, winkende Schäferjungs sind, Telefunken sei’s geklagt, ebensowenig zu erkennen, wie Schafe auf mageren Eifelwiesen zu zählen sind, so daß trotz mächtiger Müdigkeit alle wach bleiben und das Dorf wie manisch gebannt dem Geschehen im Weltraum folgt. Nur der Dachdecker, Herr Lemke, blieb dem matten Fernsehabend fern. Vielleicht, weil er zuviel zu tun hatte, vielleicht, weil er sich dem Mond viel näher wußte, als jeder Amerikaner ihm je kommen könnte, vielleicht auch, weil er selbst der Mann im Mond war, der Meister Lemke, und sich jeden Besuch auf seinem mondkraterigen Gestühl verbat.

Nun löst sich von dem kreißenden Mondgeschoß die Landerakete, ein Adler segelt auf die sonnenbeschienene Seite des Nachbargesteins, und mit dem Schnabel dieses Vogels wendet sich auch der Blick der Fernsehkamera erstmals dem Gesicht des Freunds aller Nachtschwärmer und Zechkumpanen, miesgrämigen Schlafwandler und maulfaulen Romantiker zu, und mit dem weißrauschenden und kontrastarmen Adlerauge sehen auch die Schäferinnen und Schäfer schemenhaft die kahlen Krater und moirierenden Massive der Mondoberfläche. Und als die Fähre einem Käfer gleich ihre langen mageren Stelzen ausstreckt und deichseltief im marmorgrauen Staub versinkt, als eine stählerne Leiter sich aus einer Luke schiebt und ihre Füße sich in tiefes Pulver graben, als eine Gestalt mit spiegelglattem Antlitz über acrylnem Rüstzeug seine bleibeschwerten Füße wie ein Taucher wankend auf den Boden setzt und jene Worte spricht, die nur der Mann im Mond ins Ohr gesetzt ihm haben kann, eine Laune wie Theater, eine Pose wie Kino, da sind auch die Schäferinnen und Schäfer auf dem Boden zwischen Stühlen in der Hütte vor der Mattscheibe meiner Pflegeeltern und mir, dem Zappelphillipp, ein einziges Meer der Stille. Wer jetzt nicht wußte, was Bedeutung war, der würde es nie erfahren. Oder waren seine ersten Worte gar nicht jene bedeutungsvollen, die irgendwie von großen Füßen sprachen? Waren die ersten Worte des Menschen auf jenem anderen Planeten vielleicht: „Der Adler ist unten“, oder: „Alles roger, Houston“? Fluchten die beiden Männer vielleicht, weil sie, die da durch Mondstaub waten, ins Straucheln kommen und stolpern? War der erste Schritt der Astronauten vielleicht gar kein Schritt, sondern mehr ein Fall, ein Schliddern, ein Taumeln oder ein Sturz auf den Hosenboden? Ich weiß es nicht, denn ich war nicht dabei. Ich war noch nie auf dem Mond. Was will ich da oben? Ich gehöre unter die Erde, ich will den Geschmack von mehligem Lehm und gefallenen Mistelzweigen beim Mahlen zwischen den Zähnen schmecken, ich gehöre nach ganz unten, ich bin ein Achtundsechziger, bin der Zappelphillipp. Und darum wäre ich auch dann den Geschehnissen im Fernsehen nicht gefolgt, wenn das Funkeln auf der Mattscheibe des Telefunkengeräts weniger matschig gewesen wäre. Denn wie mir später kolportiert wurde, soll es genau in jenem Augenblick zum ersten Mal aufgetreten sein, soll gerade in dem Moment, als die tollkühnen Astronauten in ihrer fliegenden Kiste zitternd ihre Fühler, Füße und Hosenboden auf den Mondboden setzten, der Zappelphillipp zum ersten Mal jenes Ziehen, jenes Zappeln, jenes Zappeln und Ziehen, jenes Fallen, Reißen und Begrabensein erlitten haben, das Stühle ins Wanken bringt, das Tischplatten in Bewegung setzt, das Suppenterrinen und Steingutteller, Blumenvasen, Fischplatten, Fleischtöpfe und all die bunten Grundnahrungsmittel dazwischen dem Erdboden ein entscheidendes Stück näher bringt. Ich bin der Zitteraal im Meer der Stille, mare tranquillitatis, ruhe in Frieden, und setzte mich ohne große Worte und beinahe bedeutungslos auf den Hosenboden, der so weich wie der Inhalt meiner Windel war. Denn am Ende der maliziösen Attacke, jener Krankheit, jenem Gebrest, jenem Tick, jener forensischen Diagnose, jener Pathologie, die mich zu dem machte, was ich war, ich bin der Zappelphillipp, der Zappelphillipp bin ich, die sich ereignet, gerade als der Mann im Mond zum ersten Mal Besuch bekommt, der Einsame in seiner Ruhe gestört wird, alles war damals gesellig, alles war eine einzige Gesellschaft, entlädt sich mein Darm wie ein explosives Geschoß und ich mache mir ins Hemd, ähnlich wie es den Astronauten ergehen muß, wenn sie bei der Zündung der Rakete mit übermenschlicher Gewalt in den Orbit geschossen werden und wegen massiver Aufregung, mächtiger Angst und dem maßlosen Druck, der mit höchster Machzahl auf die Magendecke drückt, ihre weißen, fülligen und sündhaft teuren Astronautenanzüge vollmachen. So brachte ich meine Pflegeeltern um den zweifelhaften Genuß, mit eigenen Augen dem erdnahen Spektakel beizuwohnen, um mir stattdessen in liebevoller Erdverbundenheit frische Tücher um die molligen Lenden zu schürzen. Und während sie ihr zitterndes und zappelndes Pflegekind in frische Schafswollwindeln kleiden, packen die übrigen Dorfbewohner im Geiste schon ihre Koffer, um das Eifeltal, die Schafwiesen, die Zwetschgenbäume und die sauerstoffreichen Zwischenräume zwischen Maisholmen und Mooskulturen mondwärts zu verlassen.