Aus dem 1. Bilderbogen:

Wie der Zappelphillipp funden wurde ...

Z.

P.Z.

Z.P.

Zpplphllpp.

Ich bin der Zappelphillipp. Der Zappelphillipp bin ich.

Zpplphllpp.

Doch bei weitem begann ich nicht mit dem Tisch, nicht mit dem Eßtisch, dem Tischtuch nicht, dem Ziehen, dem Zappeln, dem Zappeln und Ziehen, dem Fallen, dem Reißen, dem Begrabensein. Ich beginne nicht mit dem Begrabensein. Nicht mit dem Herrn Papà, dem Schreien, dem Schimpf, dem Verbieten.

Der Zappelphillipp beginnt hinter weitausladendem Gestrüpp, hinter Ginster, grünblauem Ginster, vor weißblühendem Baum. Der Zappelphillipp beginnt mit einem Ruf, einem Ruf und einem Pfiff, erst dem Pfiff, dann dem Ruf. Ein Herr pfeift seiner Hündin. Ein Freund ruft seine Gefährtin. Ein Mann steht zwischen Blumen und Gras, zwischen den Zwischenräumen der Margeriten und zufälligem Enzian. Da steht ein Mann! auf der Wiese, nächst dem Ginster, vor Zwetschgenbäumen, die zu lange keine Früchte trugen. Hinter dem Rufen des Mannes ist ein Meckern zu hören, das zähe Meckern und Blöken von Schafen, die zahm zwischen dem Gras stehen und das Gras fressen, weil sie hungrig sind oder weil sie die Langeweile haben, und sich von dem Pfeifen und Rufen nicht stören, sondern die Sonne auf den zerzausten wolligen Pelz brennen lassen und zwischen den Zähnen hin und wieder käuen wollen. Da sind Schafe! hinter dem Mann, der neben dem Ginster auf der Wiese steht, in der Nähe von Zwetschgenbäumen. Auf den Pelz brät den Schafen die Sonne, die dem Mann ins Gesicht scheint, und steht an einem Stückchen freien Himmel, der von, Ihr könnt es euch denken: Schäfchenwolken durchzogen wird. Zirruswolken, die mit einem über dem Atlantik befindlichen barometrischen Tief ostwärts einem über der Sowjetunion liegenden Maximum zuwandern, ohne Neigung zu verraten, diesem südlich auszuweichen. Zirruswolken, die die Lufttemperatur zwischen den Extremitäten der Jahrestemperaturstatistik schwanken lassen. Der Auf- und Untergang der Sonne, des Mondes, der Lichtwechsel der Venus, des Saturnrings, das Treiben der Eisberge im Ozean und viele andere bedeutsame Erscheinungen gehorchen den Zufälligkeiten der Voraussagen in den astrologischen Jahrbüchern. Schäfchenwolken, die das Tatsächliche gut beschreiben: es herrscht gnädiges Aprilwetter. Schäfchenwolken, die die Sonne verdecken, die ihr Stückchen freien Himmel einnimmt, unter dem die Schafe schlafen, über die der Mann wacht, neben dem das Gras wächst, wo die Ginstersträucher nicht weit sind, hinter denen Zwetschgenbäume reifen. Luise! Pfiff. Ruf. Hund. Dreiundzwanzig Jahre ist es her, daß der einunddreißigjährige Große Krieg ausgestanden war, im Lande MAgerNia. Groß und klein waren bemüht, die von dem unseligen Kriege noch überbliebenen Mißbräuche und Mängel auszufegen und das so herrliche Friedensgebräu jeder an seinem Ort mit einem ehrlichen stillen Leben zu zieren. Die Fürsten richteten die Polizey und Gericht wieder an und die Unterthanen konnten in guter Sicherheit die Früchte des edlen Friedens genießen. Im Lande MAgerNia. Bei schönem Wetter. Unter Schafen. Neben Männern. Zwischen Ginstern. Zwischen Zwetschgenbäumen.

Herr und Hund. Auf die Herde ein Auge werfend, machte der Herr sich Gedanken. Hätte er nicht vor der Herde gestanden, er hätte sich keine zarteren Gedanken machen können. Wäre er nicht Schafhirt gewesen, hätte er sich nicht ausgerechnet über Erziehung den Kopf zerbrochen. Wenn es nicht Schafe gewesen wären, dann wäre es nicht über die Erziehung des Menschengeschlechts gewesen. Wahrscheinlich. Erziehung vor Verdun. Erziehung nach Auschwitz. Erziehung während Vietnam. Wenn sein Volk nicht so roh gewesen wäre, dann hätte er nicht so ganz von vorne anfangen müssen. Mit dem Kopfzerbrechen. Wenn ihnen von Anfang an mehr Liebe und Friede entgegengebracht worden wären, dann wären die Zöglinge am Ende nicht so lernfaul und uneinsichtig gewesen. Wenn nicht in diesem Augenblick ein uneinsichtiges und lernfaules Schaf  aus der Reihe getanzt wäre, dann hätte der Mann nicht das Fehlen der Hündin bemerkt. Wenn die bockige Dackeldame ihre Pflicht getan hätte, dann wäre der zeitweilige Schäfer dem widerspenstigen Schaf mit seinem massigen Hirtenstab nicht selbst nachgegangen. Wenn er das Schaf nicht unter Zaudern wieder eingereiht hätte, dann wäre er vielleicht nicht neuerlich in Gedanken gefallen. Übers Mekkern, Grasen, Sträuben und Ausscheren. Wenn er ein Buch dabei gehabt hätte, dann hätte er nicht hineingesehen. Wenn er hineingesehen hätte, dann hätte er es sofort wieder verkauft. Und sich eine Hose gekauft dafür. Wenn ihm Bücher nicht zum Ekel geworden wären, dann hätte er nicht in der Nähe von Zwetschgenbäumen gestanden. Wenn er nicht den weiten blauen Mantel über zartweißer Hose getragen hätte. Wenn die Dackelin nicht gewesen wäre. Wenn es nicht Zwetschgenbäume gäbe. Hätten seine Gedanken nicht solche Zirkel gezogen, dann hätte er nicht im Mai oder September 1968 die Einsamkeit der Schafherden auf abschüssigen Weiden von Eifelhängen gesucht. Hätte er nicht mit seiner Dackelin über das Grasen der Schafe gewacht, dann wäre keine Dackelin jemals ihm abhanden kommen. Und hätte er nicht seine Dackelin so urplötzlich verloren, dann hätte er nicht überraschend den Zappelphillipp funden. Dann gäbe es den Zappelphillipp garnicht. Auf den Weiden der Eifel. Unter dem Strahlen des Himmels. Während des Streifens der Wolken. In der Einsamkeit der Schafe. Beim Hüten des Schäfers. Unter dem Schutz des Ginsters. Im Schatten der Zwetschgenbäume. Den Zappelphillipp. Auf die Herde ein Auge werfend, macht er sich mit dem anderen Auge auf die Suche nach seiner kurzbeinigen Partnerin, denn bei ihrem naturgemäß beschränkten Horizont konnte sie ja so weit nicht gekommen sein. Darum kam der Herr früher oder später dazu, der nahegelegenen Ginsterbüsche Geheimnisse zu lüften. Was er dort sah: Die plane Erde. Den Dreck. Den Zores aus Steinen, Zweigen, Kot, Ameisen und gefallenen Blütenblättern von Zwetschgenbäumen. Seine Dackelin, wie sie auf der Flanke liegend den Hundekopf weit nach hinten streckte, ihr Hundeblick eine Mischung aus Verstörtheit und Zitrone. Und - an den Zitzen der Zohe ein Junges, ein Kind, ein Zwerg, ein Baby, wie es genußvoll, beinahe wollüstig, und, wen wundert's? tierisch an dem Dackelinnenbusen zullt. Ich bin der Zappelphillipp, der Zappelphillipp bin ich. Ich bekenne: ich begann an den Zitzen einer Hündin, mich säugte eine Dackelin. Ich bin ein echter Acht­undsechziger. Doch bin ich kein Hundesohn, nein. Wie der Mann den Frischling fand, war er bis hinter beide Ohren feucht, war er stark behaart, ja: pelzig, hatte ein dunkles Fell aus Haar und Wolle, auf dem Haupt einen Schopf, einen zinnoberroten Schopf und war kein schöner Anblick. Hätte der zögerliche Schäfer seinen Augen getraut, anstatt einer Haarspalterei, dann hätte er den haarigen Auswurf tiefer ins Gestrüpp getreten, hätte seinen eigenherrlichen Hund verdroschen, am Halsband hinter sich her gezerrt und hätte sich mit ihr zusammen wieder an die Arbeit gemacht: zu wachen und zu denken. Ich jedenfalls hätte es genau so getan. Dann gäbe es den Zappelphillipp heute nicht, nichts zu lästern und nichts zu erzählen. Doch es gibt ihn, und er erzählt, und das bedeutet, daß der Kerl, den ich dieser Kleinigkeit wegen Herr Papà nenne, Rücksichten nahm von Anfang an: wie er nämlich verblüfft feststellen mußte, hatten wir zwei diese Kleinigkeit gemeinsam, wir hatten tatsächlich beide jene ähnliche Haarfarbe, jenen Zug ins Zinnoberrote, das mich ihm vertraut machte. Hätte es das nicht gegeben, gäbe es nicht an Köpfen das schreiende Rot in einer Welt aus blondem Schweigen, dann gäbe es den Zappelphillipp heute nicht, nichts zu meckern und nichts zu erzählen. So aber nimmt mein guter Hirte mich an sich und er behielt sein Auge auf mir Zeit seines Lebens, also länger als mir lieb war. Er trägt mich zum Graben, wo er mich an meinem Schopf ins dümpelnde Wasser hinabläßt, mich wäscht; sein weißes Hemd reißt er in Scheiben und flicht mir daraus ein Gewand, das ich zur Windel machte; dann legt er mich unter freiem Himmel ins Blaue, um bis zum Abendgrauen seiner Berufung nachzugehen, seinen kargen Beitrag zum Sozialprodukt zu leisten: zu hüten und zu denken. Wachsam beäugte seine Handreichungen meine Ziehmutter und, statt der Fehltritte der Schafe fürsorglich den Schlaf ihres Ziehkinds, des Gerechten, bewachend, legte sie sich neben mich ins Gras, denn Dackelinnen sind treue Tiere. Ich aber werde sie niemals vergessen: der Geschmack ihrer Zitzen liegt mir noch heute auf der Zunge.