Aus dem 7. Bilderbogen:

Wie der Zappelphillipp seinem Schöpfer gegenüber tritt ...

(Phillipp mußte am Ende des 5. Bilderbogens fluchtartig das Land verlassen und ist in Rom gelandet, wo er gemäß einem alten Schwur Hausmeister in einem Kloster geworden ist. In Rom hat er sich mit dem Ballonfahrer Gianni, einem Teilzeitkommunisten und Frauenhelden, angefreundet. Eines von dessen Flugmanövern im Fesselballon wird hier beschrieben)

Der Landeanflug ist ein ihm eigenes Bravourstück, dem sowohl er als auch ich bei jedem Flug schon fiebrig entgegensehen, während es wohl diese Gianni eigene Art ist, Ballons vom Himmel zu holen, deretwegen ihm die Mitgliedschaft in der Assoziation italienischer Ballonfahrer auf ewig verwehrt bleiben wird. Ruckartig nämlich schließt er den Gasbrenner, gleichzeitig läßt er mit einem harten Riß an der Leine zum Ballonventil mächtig Dampf ab. Jedesmal gibt es in diesem ehrfurchtgebietenden Moment ein mit nichts zu vergleichendes Geräusch, ein verschnupftes Zischen, ein melancholisches Saugen, das Gianni das „Pupsen der Engel“ nennt, während gleichzeitig das uns bei jedem Flug begleitende Zerren und Zittern der Hanffesseln, die den luftgefüllten Ballon halten, verstummt und für Sekunden jedes Fahrtgeräusch, jeder Windzug und selbst der kaum hörbare Herzschlag der Flugreisenden aussetzt. Wer einmal in die Gesichter schwedischer Studentinnen sehen durfte, wenn ein Luftballon in, sagen wir: 1000 Meter Höhe den Atem anhält, der ahnt, was die himmlischen Engel beim Pupsen für ein dummes Gesicht machen.

Ich will es kurz machen, so kurz, wie auch unser Landeanflug kurz ist, der mehr ein Sturzflug ist, eine Senkrechtlandung oder rundheraus: ein freier Fall, ein großer Wurf, ein Absturz. Mit bedrohlicher Geschwindigkeit verlieren wir an Ort und Stelle an Höhe, rasen mit allen Utensilien, Fotoapparaten und Schwedinnen in unserem Bastkorb, der die ehemals majestätisch gefüllte Seidenhülle wie einen nassen Sack meteorengleich hinter sich herzieht, dem Erdboden, dem Pflaster, dem ganzen Debakel aus Straßen, Steinen, Staub und den jedesmal wechselnden Zielpunkt fallender Ballonreisender entgegen. Im maximalen Beschleunigungsmoment ist es, als verlören wir alles Gewicht, als würden wir im schwerelosen Raum dem Himmel entgegen segeln, dann zieht die Welt an uns vorbei, die Adler, die Tauben, die Geier, dann träumen wir unseren letzten Traum, jeder einen anderen, nur Gianni nicht, denn wie alle Kommunisten, italienische zumal, hat er das Träumen aufgegeben. Dem Ende nahe brüllt er gegen die schwerelose Stille und das traumselige Kreischen der Schwedinnen an: „Phillipp, die Säcke!“

Und während ich mit flinken Fingern die letzten Sandsäcke leere, zündet Gianni auf höchster Stufe den Gasbrenner, so daß unser Gefährt sich daumenbreit über dem Boden fängt. Dann wirft der Kapitän sich tollkühn gegen die Bordwände, um uns um die Klippen aus Fernsehantennen, offen stehenden Fensterläden oder den wehenden Fahnen irgend welcher Volksfeste oder Staatsempfänge herum zu manövrieren. Immer wurde damals großer Staat gemacht. Immer gab es was zu feiern. Mit einem schweren Rums schlagen wir ohne Rücksicht auf Passanten alles andere als sacht auf dem Asphalt auf, mal auf der Piazza della Rotonda, mal in der Via Condotti, mal auf ausgetrocknetem Tibergrund. Trotz der entstehenden Verkehrsstörungen gab es wegen unseres Manövers selten Ärger mit den Carabinieri, zumal wenn unsere Landung sich der Mittagspause näherte. (Nur einmal, auf dem Peters­platz, kam es zu tumultartigen Szenen während einer heiligen Freiluftmesse. Da schweigt der Papst, da taumeln die Nonnen, und dann ruft Gianni auch noch in die gar nicht andächtige Stille: „Ich bring‘ euch eueren Zappelphillipp!“ Als ich mich aber als Bediensteter der heiligen apostolischen Kirche zu erkennen gebe, konnte selbst die ach so strenge Schweizer Garde beruhigt werden.) Die schlaffe Ballonhülle fällt jedesmal über uns wie ein Mantel des Schweigens. Jedesmal ist Gianni, der Routinier, als erster wieder auf den Beinen. Und immer als erster kann er sich aus dem Gewirr aus Ballonseide, Stricken und Verstrickungen entwirren und unter dem meterlangen Faltenwurf hervor krabbeln. Dann steht er da, die Arme verschränkt, mit stolzem Grinsen im Gesicht, beobachtet mit Genugtuung, wie unsere beiden schwedischen Flug- und Fallgäste auf nackten Knien torkelnd und benommen unter dem Stoff hervor krabbeln. Ich weiß nicht, ob Giannis dreiste Landung seine Chancen je erhöhten, bei den Mädchen zu landen. Ich weiß auch nicht, ob nicht vielleicht Giannis delikate Luftakrobatik nur das eine Ziel hatte, sich diesen desolaten Anblick zu verschaffen, oder ob Gianni einfach ein lausiger Luftschiffer war. Es gibt viel mehr Dinge, die ich nicht weiß, als Dinge die ich weiß. Ich bin der Zappelphillipp, der Zappelphillipp bin ich. Aber ich weiß, daß nach einer solchen Hals- und Beinbruchlandung selbst 17-jährige Jungfrauen anschließend wie 33-jährige gefallene Mädchen aussehen, und ich ahne, daß Giannis Spezialisierung auf junge Schwedinnengesichter daher rührt, daß in  ihrem blassen Teint sich das Farbenspiel vom glühenden Rot bis zu changierendem Grün besonders schillernd spiegelt. Vielleicht ist das Giannis Art, über Frauen zu triumphieren. Vielleicht ist das seine Hoffnung, aus Mädchen kleine Engel zu machen. Ja, Gianni ist ein Engelmacher, auch wenn es sich nur um pubsende Engel handelt, die ihre Flügel verloren haben und niemals mehr, in diesem Leben nicht und in keinem anderen, gen Himmel steigen werden und niemals mehr ihre kleinen Füße und ihre grazilen Beine, und sei es nur ein kleiner Sprung für einen Menschen, vom Erdboden heben. Ich wage allerdings zu bezweifeln, ob Gianni damit wirklich zur Völkerverständigung beiträgt. Aber was ist schon die internationale Solidarität gegen blonde Engel mit gestutzten Flügeln, die grün im Gesicht werden.